Fr 29.10. - 19 Uhr - Eintritt frei

Lesung - Upper East Side - Eine Friedrichshainbiografie

ISBN 978-3-96303-352-0

Kiez Premiere des Buches Berlin Upper East Side- Eine Friedrichshainbiografie.

Prof. Martin Wiebel im Gespräch mit Pascale Hugues

Neu: Ein Video der Lesung gibt es auf Youtube.

Neu: Ein Video der Lesung vom 29.11.2021 gibt es auf Youtube.

Davon ,wie das Quartier Rudolfplatz wurde ,was es  heute ist ,erzählt die doppelte Friedrichshain-Biographie,von der Jahrhundert-Wende bis zur Jahrtausend-Wende.
Wie alle Biographien erzählt auch diese von der unverwechselbaren Identität,
die sich durch die Auf-und Ab- und Umbrüche des 20. Jahrhunderts  entwickelte.
Durch die Verdopplung der biografischen Erzählung entsteht ein tiefenscharfes Abbild der Lebenswirklichkeit des Ortes einst und jetzt.
Die Verknüpfung der gesellschaftlichen und  der industriell - topographischen Entwicklung des Stadtquartiers mit der Biographie der Familie,die einst dessen Erschließung prägte ,macht Geschichte unterhaltsam nachvollziehbar .Dem langjährigen Vereinsvorsitzenden des KulturRaum Zwingli-Kirche, dem  Filmemacher und Stadtteil-Chronisten aus Passion  Martin Wiebel gelingt dank seines umfangreichen Familien-Fotoarchivs eine Collage wie im Dokumentarfilm mit Geschichten aus und über das Leben der Tochter des Stadtteil-Gründers Max Koch , seiner Großmutter Margarete zu Ehren.

Essay

BERLIN UPPER EAST SIDE Eine Friedrichshain- Biographie

Erinnerung, die nicht von der geballten Ladung Verlust gesprengt wird, ist keine tiefe.

Die wahre Erinnerung entflieht auf den Bahnen der Sprengung und fällt in verstreuten Brocken in die Ebene der Gegenwart.

Botho Strauß

 

Ich sei verliebt ins Gelingen, sagt man von mir und ich widerspreche nur ungern. Im Gegenteil, ich bestätige das mit innerer Freude immer offen, weil ich in der Tiefe meiner Empfindungen überwältigt das Glück spüre, dass der mich prägende einzigartige und besondere Mensch in meinem frühen Leben mir als Mission geschenkt hat, nämlich meine ganze Energie in Auf-Lösungen zu stecken. Die Prägung, die ich durch diesen Menschen erfahren habe und ihre Botschaft strahlte aus einem Satz, den sie mir für mein ganzes Leben hinterlassen hatte:

Es gibt immer eine Lösung!

Dieser Mensch war meine Großmutter, Margarete Henriette Schaal, geborene Koch, am 4. Juli 1880 als Zwillingskind in Berlin Tempelhof als eines der sieben Kinder des Ziegeleibesitzers und Friedrichshainer Bauherrn und Stadtteil-Entwicklers Maximilian Carl Theodor Koch(1844-1908) und seiner Frau Anna, geb. Sobotta geboren.

Diese Großmutter kam aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit, die Alexander Kluge die Zeit „ der langen Sommer und der langfristigen Perspektiven“ nennt. Obwohl sie schon seit über 40 Jahren tot ist ,wirft aber das Licht, das aus ihrer Vergangenheit in mein Leben strahlt um mich herum jene Schlag-Schatten, die meine unauflösliche Verbundenheit im Kontinuum der Genealogie bezeugen

Eingedenken / Vergegenwärtigen

Seit meiner intensiven Lektüre von Walter Benjamin als Student nutzte ich dessen Begriff Eingedenken, der ein geschichtliches Bewusstsein und eine Form des Erinnerns bezeichnet, in der die Vergangenheit nicht als etwas Abgeschlossenes begriffen und verklärt, sondern im Gegenteil ihre Gegenwärtigkeit betont wird. Im Gegensatz zur distanzierenden und beschwichtigenden Tendenz der Erinnerung bleibt Eingedenken auch dem Leiden und dem Verlust treu.

Raum voller Leben und Zeit

Nichts Geringeres als eine Doppel-Biographie wird versucht, bestehend aus der Geschichte des Stadtquartiers Rudolfplatz und der Geschichte des Lebens meiner Großmutter Margarete. Durch Erinnerungen an Geschichten von ihr, Erinnerungen und Recherchen-Ergebnisse von mir an Begebnisse, Momente und Augenblicke, Gesten und Codes, Fundsachen und Wiederentdeckungen soll sowohl ihre persönliche als auch die topographische Biographie des Stadtteils in einer Collage miteinander in Beziehung gebracht werden ,die in dem besonderen Raum voller Leben und Zeit entstand : BERLIN UPPER EAST SIDE.

Friedrich Ratzels Satz“ Im Raume lesen wir die Zeit“ könnte auch Motto dieses Buches sein. Karl Schlögel verdanke ich die Wiederentdeckung topografisch zentrierten Geschichtsschreibung, der in seinem Buch über St. Petersburg den Ratzel-Satz zum Titel machte und behauptete:

„Topografisch zentrierte Geschichtsschreibung leitet sich primär aus dem Gegenstand ab und nicht aus der Absicht, eine „trockene Geschichte“ mit ein bißchen Lokalkolorit oder Aroma zu versehen .Aber man schreibt ein Buch nicht , um Mißverständnisse abzuwehren, auch nicht allein der Selbstverständigung wegen .Es geht in erster Linie um die Erprobung historiografischer Möglichkeiten, um eine Revue darstellerischer Mittel , die uns erlauben, Geschichte auf der Höhe der Zeit zu schreiben, das heißt: auf der Höhe des 20. Jahrhunderts mit all seinen Schrecken, Diskontinuitäten, Brüchen und Kataklysmen …“

Passion für einen Stadtteil

Erinnerung ist die Fähigkeit, das gelebte Leben nach Kriterien des Erzählbaren gestaltend zu ordnen. Das kollektive Gedächtnis der Menschen, die einem spezifischen Stadtteil sein eigenes Bild gaben, liefert als Material die Bruchstücke, die Scherben und Splitter der je eigenen Erinnerung. Das Widersprüchliche und Eigene in den Vergangenheiten, Geschichten und Un-Glücksmomenten lässt sich sammeln und ordnen mit der Absicht, die Biographie eines spezifischen Lebensraumes in einem Stadtteil einer Großstadt herzustellen, so dass dessen Geheimnis zu Tage tritt. So entsteht in einer bio- und topographischen Collage hoffentlich ein tiefenscharfes Bild einer Lebenswirklichkeit, die mehr als nur die 100 Jahre des 20. Jahrhunderts umfasst, letzlich bis heute reicht.

Berlin im Osten - Eine städtische Bühne

Es gibt, auch wenn es nicht augenfällig und vordergründig zu sein scheint, einen Zusammenhang von Topographie und Biographie, eine Spannung zwischen dem Erlebten und Erinnerten und der architektonischen Szenerie, vor dem sich das Erlebte abspielt. Viele Biographien sind so auf anderen städtischen Bühnen gar nicht erzählbar: Wasser, Hafen ,Eisenbahn ,U-Bahn und Brücken, die Glühlampen-Industrie und die Wohnwelten um das Ruhezentrum des Quartier Rudolfplatzes herum, nebenan die historische Industrie-Spree entlang der Mühlenstrasse und am anderen Ende die Stralauer Halbinselidylle, die im 19.Jahrhundert noch ein Industrie-Dorf war , gegenüber die Treptower Parkwelt : Dieses Bild eines Berlin im Osten erscheint ganz anders als sein schlechtes Image.

Berlins Upper East Side ist charakterisiert durch die demonstrative Präsenz der Vergangenheit des industriellen Aufschwungs mit der Elektrotechnik im Berliner Osten, der entscheidenden Vision Emil Rathenaus, der selbst im Osten ,in Oberschöneweide lebte und dort auch- wie sein Sohn Walter Rathenau- beerdigt wurde und den Visionen von Architekten wie Hoffmann, Messel, Kampffmeyer, Grenander und eben auch Max und Sigismund Koch, für die Menschen ,die diesen Aufschwung ermöglichten, angemessenen Lebens- und Wohnraum zu schaffen.

Heute fällt im Gegensatz zum Beginn des 2o.Jahrhunderts die Heterogenität der Wohnraumbebauung auf, die wie die Narben der Geschichte den Körper des Quartiers zeichnet und den Zeitenbruch spürbar macht.

Diese Mischung aus Gründerzeiten-Architektur, veritablen Industriebau-Denkmälern und klassischem Zeilenbau der Nachkriegszeit ist der sinnfällige Ausdruck für die Unterschiede der Lebens- und Erfahrungswelten in der ersten und zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts.In den Biographien erkennt man im Gegensatz zu den Gebäuden noch eher “... an allem, was jetzt ist, sein schöneres Nichtmehr“, wie Botho Strauss schreibt.

Vergangenheit gehört dem , der sie sich nimmt

Verlorenes muß nicht verloren gehen, solange das Gedächtnis es festhält und Neugier sich der Geschichte des 20. Jahrhunderts zuwendet, weil sie Teil meiner höchsteigenen Geschichte ist. Meine Neugier kann die Wirklichkeit untergraben und nach etwas suchen, das die Wirklichkeit selbst verschüttet hat. Erst die Genauigkeit und die Beharrlichkeit des Erinnerns stellt die wahre Dimension der Wirklichkeit wieder her.

Meine Doppel- Biographie dieses Stadtteils und die meiner Großmutter wird im essayistischen Stil unvermeidlich meine subjektive Handschrift als Biograph tragen, der durch die persönliche, familiäre und emotionale Beziehung zu meiner Heimat in diesem Stadtteil schon die Suche, vor allem die Auswahl und die Montage bestimmt hat.

Ich als Nacherzähler habe wie ein Dokumentarfilm-Regisseur weggelassen, geschnitten und montiert und in das Ensemble der Fiktionen meine eigene Fiktion eingebracht. Meine Autorität verdanke ich er allein dieser individuellen Mischung aus Passion und Neugier, um die Geschichte und ihren Wert für die gegenwärtige Wirklichkeit und Zukunft zu betrachten und vergangene und gegenwärtige Wirklichkeit erzählend verstehen zu wollen. Was diese Doppel- Biographie also zeigt, ist kein loses Material, absichtslos zusammengekehrt, in reiner Objektivität, sozusagen untouched by human hands. Im Gegenteil.

Unter dem Gras drüber

Die Idee, nicht nur in einer Biographie das Leben einer Person, sondern auch einen Stadtteil wie eine besondere Person zu verstehen, seine eigene Geschichte in Erinnerung zu bringen, nach ihren Spuren zu suchen, ihre nachwirksamen Zeichen zu finden und davon zu erzählen, mag kühn erscheinen, denn die Stadtteil- Biographie ist eher die einer gespaltenen Persönlichkeit, vielstimmig und gegensätzlicher kaum vorstellbar. Dennoch vereint der Wohn- und Arbeitsort die kollektive Erfahrung, aus der sich sozusagen die Persönlichkeit des Stadt-Viertels ergibt, seine Identität.

Mit dem Echolot aufspüren, wie ein Stadtquartier wurde, was er wurde

Steine können sich nicht erinnern, aber Menschen, deren Lebensraum dieser Stadtteil gewesen war oder geworden ist. Erst wenn man die lebensnahen Gesichter, Namen und deren Geschichten kennt, wird die Geschichte eines Ortes wirklich begreifbar. Unter dem Gras drüber soll hervorgeholt werden, wie ein Stadtteil wurde, was er wurde, welche Identität er erwarb, verlor und wiedergewonnen hat zwischen der Geburt am Anfang des 20. Jahrhunderts und der Wiedergeburt am Anfang des 21. Jahrhunderts – zwischen Tradition und Neuanfang.

Ich habe eine Art Echolot-Technik angewendet , topographische und auch vertikale biographische Tiefenbohrungen durchführen , um daraus Spuren lesen zu können, Detektiv und Interpret in einem zu sein.

BERLIN UPPER EAST SIDE, diesen Stadtteil mit dem Glühlampenwerk in seiner Mitte und der „Industrie-Spree“ entlang der Mühlenstrasse am anderen Ende kann man als einen Mikrokosmos deutscher Geschichte betrachten. Das Leben meiner Großmutter Margarete Henriette Schaal, geb. Koch in diesem Stadtteil ebenso: Ihr geschah dort alles, was das 20. Jahrhundert, seine Träume und Alpträume ausmachte.

Schatten entstehen aus den Trümmern

Ich bin als Biograph zum verstehenden Erzähler geworden, der aus Passion und Mitgefühl und mit Neugier und Phantasie das Leben und die Welt der Vorfahren auffächert, die Widersprüche bewahrt wie die Geheimnisse umkreist und dabei nicht zuschüttet oder einebnet.

Erinnern heißt natürlich immer auswählen. Es reicht, was Walter Benjamin, dessen Buch „Berliner Kindheit im 19.Jahrhundert“ immer Pate steht bei solchen Versuchen, erreichen wollte, dass nämlich „Schatten entstehen aus den Trümmern einer verschwundenen Welt“.

Mein Interesse als Erzähler, das sich in meiner Suche verrät, ist nicht auf Vollständigkeit gezielt, vielmehr  beanspruche ich die Freiheit, in das Ensemble der Fiktionen meine eigene Fiktion einzubringen. Der „ Stillen Post“- auf die ich mich oft beziehe, ist die Wahrheit letztlich auch egal.

Eines Tages kommt einer und bringt das alles wieder in Ordnung !

Meine Großmutter Margarete muss -wie immer an eine Lösung aus der Not glaubend – so etwas ähnliches vor Augen gehabt zu haben .Sie stand mit mir als 10jährigem eines Tages auf der Strasse vor den Wohnhäusern in der Rotherstrasse und war gerade vom Bezirksamt aufgefordert worden , die schwer kriegsversehrte Stuck-Fassade abschlagen zu lassen .Sie erklärte mir, das nicht zu wollen ..Erstmals fiel der Satz , den ich nie vergessen habe: Eines Tages kommt einer und bringt das alles wieder in Ordnung!.

Dieser Satz, der dem unerschöpflichen Arsenal ihres , sie über die Abgründe ihres Lebens rettenden Willen zum Glück entsprang , demnach es immer eine Lösung gebe und keine unlösbaren Konflikte und Probleme , war mir nicht nur sehr geläufig , sondern zum eigenen Leitbild geworden .Ich wusste damals allerdings nicht , dass sie mich damit gemeint haben könnte und dass ein solcher Tag eines Tages kommen und mich an den Auftrag mahnen würde.